Wirklichkeit im Zeitalter ihres Verschwindens

Zum Thema

Man muss sich beeilen,
wenn man noch etwas sehen will.
Alles verschwindet.

Paul Cézanne

Die Zukunft, verkünden Wissenschaft, Wirtschaft und Politik unisono und apodiktisch, das ist die „Wissensgesellschaft“, – von der allerdings mit Gewissheit nur soviel schon sich sagen lässt, dass der Mensch dort einen Großteil seiner Lebenszeit in den Räumen objektivierten Wissens, vulgo: vor dem Computer und im „Netz“ verbringen soll.
Was aber ist so neu an dieser Aussicht, so dass es berechtigt wäre, von einem Verschwinden der Wirklichkeit zu sprechen? Über die Fähigkeit, in seiner Fantasie Gegenwelten zur realen zu schaffen, die die dichotomische Entgegensetzung von Sein und Schein unterlaufen und daher einen eigenen Seinsstatus beanspruchen, verfügte der Mensch schon immer. Auch der Roman ist schließlich eine Illusionsmaschine. Neu aber an Computer und Internet (Cyberspace) ist, dass diese Illusion nicht imaginativ vor dem „geistigen Auge“ des Lesers abläuft, sondern sich optisch realisiert und, mittels Maus, haptisch fassbar („interaktiv“) scheint. In jenem Modus, den wir „virtuelle Realität“ oder gleich „virtual reality“ zu nennen uns angewöhnt haben, schiebt sich eine „Wirklichkeitsschicht zwischen die empirische Realität und die Welt der Theorien, Ideen und Begriffe“ (Gernot Böhme). Die Metamorphose der Daten auf dem Interface des Rechners zu visuell begehbaren Datenräumen bedeutet also eine weitere, qualitativ neuartige Stufe der Symbiose zwischen Mensch und Maschine und damit der Entwicklung des Realen – Raum, Zeit, Materie -, die den technologischen Fortschritt, d. h. die Konstruktion immer leistungsfähigerer Maschinen, insgesamt kennzeichnet.
Mechane hieß ursprünglich aber „Betrug an der Natur“. Die Maschine substituiert Natur und simuliert gleichsam deren ursprüngliche Macht: Produktion und Reproduktion von Welt. So wurde die Geschichte der modernen, von den Naturwissenschaften geprägten Zivilisation die Geschichte der Unterwerfung und Ausgrenzung der Natur aus der menschlichen Evolution. Inzwischen, im Zeitalter der technischen (Re-)Produzierbarkeit des Schafes wie des Menschen, ist Natur – auch im wörtlichen Sinne – so weit von uns fortgerückt, dass wir unsere Ausbeuterbeziehung individuell kaum noch erfahren können.
Ist der Mensch der Schöpfer seiner Welt, so gilt das erst recht in der Welt des Sozialen. Für wirklich halten wir – tautologisch formuliert – das, was wir gelernt haben dafür zu halten, Wirklichkeit ist ein Konstrukt aus unserer Erziehung und unseren Erfahrungen. Parallel zum Verlust von Primärerfahrungen gewinnen daher die Massenmedien an Bedeutung. Sie sind es, die uns die Welt erklären und damit – selektierend, verarbeitend, interpretierend – den Prozess der Erzeugung von gesellschaftlicher Wirklichkeit zumindest beeinflussen. Die Medien liefern dem Benutzer Identitätsanregungen, auf die jeder angewiesen ist, seit nicht mehr das Herkommen den Einzelnen mit Status und Sinn versorgt und die traditionellen Sozialisationsinstanzen (Elternhaus, Schule, Kirchen, Parteien…) an der Sinnbörse kaum noch notiert werden.
Das „Verwirkliche dich selbst!“, jener Imperativ der aus alten Hörigkeiten befreiten Gesellschaft, zwingt den Einzelnen, auf eigene Verantwortung nach einem Design für seine Identität zu suchen. Folgerichtig ist der Konstruktivismus zur herrschenden Schule unserer Selbstwahrnehmung geworden. Das Subjekt wird erst wirklich, indem es (in Grenzen natürlich) sich selbst inszeniert. Wirklichkeit verwandelt sich dabei in eine Kulisse spielerischer Selbstdarstellung, und an die Stelle des Erlebnisses tritt das arrangierte Event, das seine monadischen Teilnehmer temporär zu einer Suggestionsgemeinschaft vereint (z.B. im Fußballstadion). Die Große, zwischen all den disparaten Events der Selbstverwirklicher Kohärenz stiftende Erzählung aber ist verstummt. Auch für das einzelne Individuum also schwindet immer mehr jene existenzielle Gewissheit, die Wirklichkeit erst verbürgt. – Das kann auch als Chance verstanden und gelebt werden.
Gewissheit kann und will der Kleine Universitätstag nicht liefern, aber er möchte, indem er „Wirklichkeit“ in Frage stellt, einen – notorisch bescheidenen – Beitrag leisten zur Selbstreflexion der Moderne bei ihrem Aufbruch in die „Wissensgesellschaft“. Nur ein interdisziplinärer Ansatz, wie er eben das Kennzeichen des Kleinen Universitätstages ist, kann der Komplexität und Vieldimensionalität des Themas beikommen.
Einige Aspekte seien genannt, die einzelne Veranstaltungen, tlw. auch quer zu den Fakultäten, verbinden:

  • Wirklichkeit ist zunächst natürlich die Frage nach der Beschaffenheit der Welt und nach der Ermöglichung unserer Fähigkeit, Wirklichkeit sinnlich zu erfassen und zu interpretieren. Mit der Kosmologie und mit der Hirnforschung beschäftigen sich daher zwei Vorträge des naturwissenschaftlichen Aufgabenfeldes.
  • Das zentrale Medium unserer Wirklichkeitsverarbeitung ist die Sprache. Den Möglichkeiten und Grenzen der lingua franca der Naturwissenschaften, der Mathematik, gelten zwei Vorträge dieses Aufgabenfeldes. Im ersten Aufgabenfeld wird aber auch die Funktion der natürlichen Sprache zur Welterschließung thematisiert.
  • Unser kulturell geprägtes Naturverständnis überprüft ein Beitrag am Beispiel unseres Umgangs mit unseren nächsten Verwandten, den Affen.
  • Mehrere Vorträge des gesellschaftswissenschaftlichen Aufgabenfeldes analysieren die Folgen einer Gesellschaft, die dem Diktat technologischer und ökonomischer Effizienzsteigerung gehorcht. Wie kann sich Mensch-Sein in ihr noch verwirklichen? Was bleibt vom driftenden Menschen im flexiblen Kapitalismus? Auch der Beitrag über die Aussichten einer technisch hochgerüsteten Medizin ließe sich diese Fragestellung zuordnen.
  • Dass und in welcher Weise Erziehung das Wirklichkeitsmodell des Menschen individuell wie gesellschaftlich erst konstituiert, zeigen je ein Vortrag des ersten und des zweiten Aufgabenfeldes.
  • Wirtschaft und Politik sind, wie man früher sagte, das Schicksal der Menschen, sie sichern oder zerstören ihre äußere Existenz, aber nicht nur diese. Das verdeutlichen zwei Veranstaltungen des gesellschaftswissenschaftlichen Aufgabenfeldes.
  • Ohne die Einbeziehung der Künste und der Medien fehlte dem Thema eine zentrale Dimension. Mehrere Beiträge in den ersten beiden Aufgabenfeldern beschäftigen sich mit den traditionellen Künsten Musik, Malerei und Literatur sowie den modernen Medien Film und Fernsehen.

Die Teilnehmer/-innen sind eingeladen, aus der thematischen Vielfalt der achtzehn Vorträge ihr individuelles Design zur intellektuellen Selbstverwirklichung zusammenzustellen. Die Organisatoren hoffen allerdings, dass die Veranstaltung mehr sein kann als ein bloßes Event.

Christoph Tewocht