Nur Götter und Götzen?
Zur Aktualität des Mythos

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Von der ursprünglichen (griechischen) Bedeutung her heißt Mythos Rede, Wort, Erzählung, Botschaft, Nachricht, Kunde. Dabei ist der Begriff aber auch in seiner ursprünglichen Bedeutung sehr facettenreich und reicht von Gerücht und sagenhafter Erzählung bis hin zu Überlegung, Gedanke und Plan und rückt so auch in die Nähe des Begriffs Logos.
Durchgängig erscheinen Mythen als Erzählung, die „letzte Fragen“ des Menschen nach seinem göttlichen Ursprung und die durch göttliches Wirken geschaffene, bestimmte und gelenkte Welt stellen und in ihrer Ganzheit zu erklären suchen. Schöpfungsmythen (vom Anfang der Welt) und eschatologische Mythen (vom Ende der Welt) sind dafür ebenso typisch wie die gesamte Götterwelt der Antike. Hier tritt Mythos als antipodischer Begriff zu Logos – im Sinne von Vernunft – auf und es wird ihm die Bedeutung der unwahren Erzählung zugewiesen. Dabei ist unentschieden, ob Mythos Ausdruck primitiven Denkens oder Kindlicher Fantasien ist, das von aufgeklärtem Bewusstsein in der Entwicklung des Menschen schließlich überwunden wird (so etwa Aristoteles), oder ob Mythos tiefere von der Vernunft und Wissenschaft nicht erreichbare letzte Wahrheiten bedeutet. Das Verhältnis von Mythos und Logos durchzieht die Geschichte der Wissenschaft und der Philosophie und hat sich in dieser Geschichte immer wieder gewandelt und das Wissenschafts- und Kulturverständnis der jeweiligen Epoche angezeigt. Heute erkennen wir – in einer scheinbar vollständig aufgeklärten Welt – die auch die letzten Geheimnisse des Lebens zu enthüllen sich anschickt, eine Flucht in den Mythos als eine dem Verstand nicht zugängliche Nische der menschlichen Existenz. So bilden die Spannungsfelder Mythos – Religion, Mythos – Aufklärung, Mythos – (Natur-)Wissenschaft mannigfache Ansätze zu philosophischen wie wissenschaftstheoretischen Abhandlungen. Das Verhältnis zum Mythos beleuchtet aber auch die unterschiedlichen Menschenbilder der Epochen und ist von den politischen Umwälzungen der letzten 15 Jahre her auch mit brennender Aktualität bezüglich der menschlichen Existenz und deren Bedrohung versehen.

Das Alte Testament und Platon schaffen mit ihren Mythen – in der Schöpfungsgeschichte – beziehungsweise in den in Gorgias, Phaidon und der Politeia dargelegten eschatologischen Mythen sozusagen eine geschichtliche Grundlage für die Beziehung zwischen Religion und Mythos. Platons Mythen sind ein Zeugnis „menschlicher Sittlichkeit“ und kennzeichnen ihn als Vertreter der Willensfreiheit und der Jenseitigkeit, während Aristoteles die Glückseligkeit noch im Diesseits sucht und einen starken Gegensatz zwischen Mythos und Wissenschaft herstellt. Demnach habe das fortschrittlich-rationale Denken das vergangene mythische abgelöst.

Karl Jaspers sieht diesen Gegensatz nicht, sondern verbindet Wissenschaft mit Mythos, der eben nicht Vergangenheit sei: „Wir alle leben in Bildern, auch wenn wir sie in philosophischer Spekulation überschreiten; man kann sie den unumgänglichen Mythus nennen“. Für Jaspers ist sogar jeder Begriff Bild und darum Mythos. So kann Mythos seine Funktion als Bild und Symbol gewinnen, das – manchmal mit einfacher Sprache wie zum Beispiel in der Bibel – dem Menschen die Welt erklärt, Unfassbares fassbar macht und so dem Menschen Haltepunkte für sein Denken liefert. Die Flucht in Mythen – auch in der jüngsten Geschichte – bedeutet auch die Suche des Menschen nach Vereinfachung in einer immer komplexer werdenden und mit einfachen „Schwarz-Weiß-Modellen“ nicht erklärbaren Welt.

Eine engere Verbindung zwischen Wissenschaft und Mythos – gemäß der ursprünglichen Bedeutung des Begriffs Mythos – kann auch daraus ersehen werden, dass Mythen auch Ausgangspunkt und zumindest Anlass wissenschaftlicher Forschung sein können: Die Zahlenmythen sind schon von den Babyloniern her Ausgangspunkt der gesamten Zahlentheorie in der Mathematik geworden, einer mathematischen Disziplin, die heute noch etliche Geheimnisse in Form ungelöster, elementar darstellbarer Probleme birgt. Auch die Geschichte des Parallelenaxioms in der Geometrie hat eine mythologische Kraft, haben doch Jahrhunderte lang Mathematiker versucht, dieses Axiom zu beweisen (bis zu Felix Klein und David Hilbert). Der Mythos des Parallelenaxioms wird daher auch von den menschlichen Schicksalen verstärkt, die an das Scheitern eines Beweisversuches geknüpft sind. Werner Heisenberg hat mit dem Versuch, eine ‚Weltformel‘ zu entwickeln, ebenfalls den Mythos geweckt, man könne mit einer Formel die physische Welt beschreiben. Er ist damit zwar persönlich nicht vorangekommen, der Glaube daran mag bei vielen bleiben.

In der Psychologie taucht der Begriff Mythos mit seinem Kognitiven Aspekt als Anbieter eines geschlossenen Weltbildes auf, das keine Fragen mehr kennt und zulässt, und beschreibt (wie bei Aristoteles) somit ein Entwicklungsstadium des menschlichen Denkens schlechthin. Insbesondere da, wo die Psychologie – wie auch andere wissenschaftliche Theorien – soziale, politische oder therapeutische Wirkungen entfalten will, muss sie notgedrungen mythische Elemente aufnehmen. Gerade die nach Sigmund Freud entwickelte Psychoanalyse bedarf auch der Mythen als Handlungsmustern (Ödipus-Komplex, Elektra-Komplex zum Beispiel), wobei sie sich gerade im tiefenpsychologischen Bereich der Bilder der antiken Mythologie bedient. Auch die Nähe tiefenpsychologischer Therapien zur Traumdeutung beleuchtet die Beziehung zwischen Psychoanalyse und Mythos, durchaus in einem wissenschaftlichen Zusammenhang. Dabei benutzt die von Freud gegründete Psychoanalyse immer wieder – so zum Beispiel in seinem Instanzenmodell der Psyche. Die Psychoanalyse steht hier als Beispiel für Wissenschaften, die in ihrer Auswirkung auf den menschlichen „Alltag“ mythische Aspekte aufweisen, aufweisen müssen.

Die Medizin (Unsterblichkeit, Organtransplantation, Gentechnik, medizinische Ethik), die Sozialwissenschaften (Werbung, Medien), die Erziehungswissenschaften (Normen und Werte, Menschenbilder, Waldorf-Erziehung), die Jurisprudenz (berühmte Prozesse und Rechtsprechungen, Recht vs. Gerechtigkeit) bieten schnell weitere Beispiele.

In der Dichtung ist der Mythos ein – häufig religiös – geformtes Urmotiv, das durch sich selbst schon poetisch ist. So sind manigfache enge Verknüpfungen mit Literatur und Literaturwissenschaften gegeben.

Adorno und Horkheimer beschreiben in ihrem Werk „Dialektik der Aufklärung“ die Beziehung zwischen Mythos und Aufklärung. Ausgehend von der Gewaltherrschaft des Dritten Reiches stellen sie fest, dass sich die Aufklärung ihrer Menschlichkeit begeben hat, weil sie sich auf eine instrumentelle Vernunft reduziert hat. Dabei nehmen sie an, dass Aufklärung schon in sich selbst den Keim der Regression trage und somit sich selbst zerstöre. Während die Aufklärung ursprünglich den mythischen Bann des Schicksalhaften über den Menschen brechen wollte, schlage sie durch Reduzierung der Vernunft auf Positivismus selbst in Mythologie um. Ein Mythos des Objektiven entstehe, beherrsche die Wissenschaft und mache den Menschen wissenschaftsgläubig, indem sie den Naturwissenschaften und der Technik eine unbeschränkte Vormachtstellung einräumte. Alles, was sich der Berechenbarkeit und Nützlichkeit entziehe, werde weggeschnitten. Aus der schicksalhaften Verschlingung von Aufklärung und Mythologie scheint es demnach keinen Ausweg zu geben.

Neben dieser pessimistischen Sicht der engen Symbiose von Mythos und Aufklärung sieht dagegen Hans Blumenberg ein positives, das Humanum förderndes Ereignis. Nach ihm ist die Funktion des Mythos bereits eine vernünftige, der Mythos selbst schon ein „Stück hochkarätiger Arbeit des Logos“, weil er dem Menschen half, die unbegriffene Wirklichkeit, das Chaos zu überwinden und sich einem entlastenden Freiraum zu schaffen. Mythos stellt den Menschen nach Blumenberg nicht vor Entscheidungen, hat keinen Absolutheitsanspruch und ist so antitotalitär.

In der modernen Welt erleben wir, dass selbst triviale Dinge Kultstatus (Elvis, Greta Garbo, Lady Di, der „Käfer“, ein Fußballländerspiel,…) erhalten und über diesen Status zu einem Mythos werden können. Der stark subjektivistische Aspekt solcher Mythen zeigt sich darin, dass sie nicht mehr von der großen Gesellschaft insgesamt getragen werden, sondern nur noch in kleineren Gruppen Identität schaffen. Eine Inflation von Mythen ist die Folge, schnelllebig, als Modeerscheinung gekennzeichnet und häufig von den Medien und der Werbung genutzt. Zugleich werden Mythen in einer Zeit, in der die religiöse Bindung der Menschen schrittweise verloren geht, ein Instrument zur Sinnfindung und zur Bewältigung existenzieller Widersprüche. So kann der Begriff Mythos auch als Sinnsuche oder Weg zum Lebenssinn interpretiert werden und findet damit in „Sinn“ den Oberbegriff.

Diese knappen Ausführungen können nur ansatzweise Zugänge zum Mythosbegriff und seinen Wechselbeziehungen zu anderen Kulturbegriffen und Wissenschaftsdisziplinen beleuchten. Die weltanschauliche und historische Dimension des Begriffs bis hin zu aktuellen Bezügen hat eine große Fülle von möglichen Themen für Vorlesungen am Universitätstag hervorgebracht, die die Auswahl nicht leicht gemacht haben. So waren die konkreten Auswahlkriterien für die Themen einerseits bestimmt durch die gewünschte Mehrdimensionalität im historischen und aktuellen Kontext, andererseits durch Bezüge zur Erfahrungswelt der Adressaten und zur gegenwärtigen Forschung. Zudem wurde eine möglichst gleichmäßige Berücksichtigung der drei Aufgabenfelder der gymnasialen Oberstufe zugrundegelegt. Nach diesen Aufgabenfeldern wurde auch die Einteilung der Themen vorgenommen.
So hoffen wir, mit diesem Vorlesungsverzeichnis eine Liste von Themen vorzulegen, die das Interesse der Schülerinnen und Schüler und der Hörer des aktuellen forums finden.

Joachim Engelhardt