Zwischen heimelig und unheimlich – Heimat – Nachdenken über die ewige Wiederkehr eines Begriffs

Zum Thema
Gefeiert viel und viel geschmäht: Heimat. Das Phänomen, das jenseits aller Tümeleien und Ideologien mit „Heimat“ bezeichnet wird, scheint zu den existenziellen Bedürfnissen des Menschen zu gehören: die Erfahrung der Vertrautheit und Überschaubarkeit räumlicher und sozialer Beziehungen. Wird dieses Bedürfnis nicht gestillt, befindet der Mensch sich in der „Fremde“, ist er beraubt eines wesentlichen Teils seiner Identität. Zu „Heimat“ gehören also Orientierung, Vertrautheit, „Wärme“.

Die Moderne in all ihren kulturellen Ausprägungen von der Wissenschaft über die Ökonomie und Politik bis zur Mode, Kunst und Moral aber ist gekennzeichnet durch Mobilität und Veränderung, die in progressiver Geschwindigkeit Erfahrungen überholen, Vertrautes in Frage stellen und dem einzelnen die Orientierung erschweren. Daher verwundert es nicht, dass „Heimat“ in den letzten Jahren eine Renaissance erfährt, scheint sie doch Authentizität zu bieten, Komplexität zu reduzieren und Versöhnung mit den Kosten des Fortschritts zu verheißen. Wieweit die Verheißung eine falsche und die Versöhnung eine verlogene ist, darum geht der Streit zwischen den Verteidigern der „Heimat“ und denen, die „Heimat“ schützen wollen gegen ihre Verteidiger.

„Heimat“ kann heute, wo die Welt ein Dorf und alles mit jedem vernetzt ist und sekundäre Erfahrungen die primären überlagern, nicht begrenzt werden durch die Kirchturmperspektive. Wer heute „Heimat“ in den Blick nehmen will, hat demnach das komplexe Beziehungsgeflecht zu berücksichtigen, welches das Nahe mit dem Fernen, das Fremde mit dem Eigenen verbindet, ja überhaupt erst einmal zu bestimmen, was denn nah und eigen oder fern und fremd ist.

So sind die Einzelthemen des Kleinen Universitätstages 1994 explizit oder zumindest indirekt im Zusammenhang mit übergreifenden Fragestellungen zu sehen:

  • Gibt es ein Heimischwerden in einer Welt mit offenen Horizonten?
    Stichworte: Heimat auf Widerruf, Vernetzungen, Zwischenaufenthalte, Exile
  • Wie kommt der Kampf um die Erneuerung der Heimat, das „Erstreiten einer Heimat“ (Max Frisch) aussehen?
    Stichworte: Ökologie, Politik, Soziales
  • Wo zeigen sich – nicht nur dumpfe – Resistenzen gegen die Massenmedien, Bürokratie und Unterhaltungsindustrie begünstigte Nivellierung und geistige Enteignung regionaler Besonderheiten?
    (Stichworte: Sprache, Kultur, Lebensart, Geselligkeit)
  • Gibt es einen Verlust der „mythischen Heimat“ (Nietzsche) als Folge des kulturellen Vagabundierens?
    Stichworte: Mythos Kindheit, Freiheit und Beliebigkeit, Multikulturalität, Religion in der Moderne

Verständlicherweise kann sich der Kleine Universitätstag dem vielschichtigen und vieldeutigen Phänomen „Heimat“ nur andeutungsweise und exemplarisch nähern. Manches nicht Unwichtige muss ausgespart werden, wie z. B. philosophische Überlegungen zu „Raum/Zeit“ – Verdichtung/Beschleunigung“ oder „Tradition und Traditionalismus“. Anders (v. a. im mathematisch-naturwissenschaftlichen Aufgabenfeld) besticht mehr durch den Bezug zur aktuellen wissenschaftlichen Diskussion denn durch die Nähe zum Rahmenthema. Gleichwohl liegt es in der Absicht des Kleinen Universitätstages 1994, Phänomen und Begriff Heimat zu „vermessen“ und in interdisziplinären wissenschaftlichen Diskurs einen Beitrag zur Diagnose der Gegenwart in ihrer Krise zu versuchen.